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Kapitel I
Der Eiswindpass


Einige Stunden vor Abreise war es Jack doch schwer gefallen, Haldia den Rücken zu zukehren. Die Vorbereitungen für den langen und sicher nicht gefahrlosen Weg hatten nur zwei Tage in Anspruch genommen doch nun, wo Jack von einem weiten Schneehügel aus auf die zerstörte Stadt schaute, fassten ihn Trauer und ein schlechtes Gewissen. Da lag die Königin der Berge und ihre mächtige Präsenz war durchbohrt von massiven Eissplittern. Er konnte sie bluten sehen, seine Stadt, die er auf unbestimmte Zeit verlassen würde.
Mit einem Seufzen und Kopfschütteln wandte er sich dann jedoch ab und stapfte schwer durch den knietiefen Schnee zu Gortak, welcher in seinen prallgefüllten Satteltaschen Proviant und Ausrüstung trug. Jack kraulte den Greif sanft am Kopf und strich ihm zwei-, dreimal ruhig über den Schnabel, ehe er sich in den Sattel schwang.
Bis zum Eiswindpass sind es mehrere Tagesmärsche durch tiefen Schnee und stetig über Berge hinweg. Eine kraftraubende Wanderung und nicht ungefährlich, denn die tiefen Schluchten und wüsten Steinwälder durchstreifen bisweilen schlimmere Kreaturen als Riesenwölfe. Auf dem Rücken eines Greifen jedoch dauert es nicht einmal einen halben Tag, bis das Tor zur Eiswüste in Sichtweite kommt.

Jack rutschte ein wenig im Sattel hin und her, bis er bequem saß und grub seine Hände in die dichten Flaumfedern am Nacken, bevor er seinem Reittier mit sanftem Wadendruck den stummen Befehl zum Abheben gab. Gortak riss die Flügel auf und stieß sich mit einem einzigen, kraftvollen Schlag seiner prächtigen Schwingen vom Boden ab. Etwas, was einen unerfahrenen Reiter noch jedes Mal aus dem Sattel geworfen hatte. Einige Meter in die Höhe war der Ritt auch noch mehr als unbequem, aber als der Greif einen geradlinigen Wind fand, brauchte er lediglich die Flügel weit ausbreiten um gen Südosten zu segeln. Wie jedes Mal musste Jack einige Minuten mit sich kämpfen, um das flaue Gefühl im Magen beim Start zu vertreiben. Doch schnell machte sich die Ruhe wieder in ihm breit und er lockerte seinen Griff in Gortaks Nacken, um den Blick auf den Horizont zu richten. Die glitzernd-weißen Weiten und die ewige Stille waren jedes Mal atemberaubend. Nur das gleichmäßige Flügelschlagen des Greifen unterbrach ab und an das Schweigen der Berge.

Fliegen ist eben die einfachste, sicherste und schnellste Art des Reisens, doch als die Sonne schon rot im Westen stand und die Schatten der Berge länger wurden, begann Gortak allmählich tiefer zu segeln. Vor ihnen, wo die Nacht am Himmel schon ihr Tuch auswarf, endete der weiße Horizont abrupt. Das Haluradgebirge schließt mit einer gewaltigen Schlucht, einem Einbruch, dessen Überfliegen den sicheren Tod bedeutet, da wilde und unbeherrschte Eiswinde über die wirren Zinnen und tiefen Gräben jagen. Selbst ein König der Lüfte, wie der Greif einer ist, würde allein aus natürlichem Instinkt heraus niemals den Kampf gegen jene unberechenbaren Stürme aufnehmen. Doch auch der Weg zu Fuß ist unsicher und gefährlich und so gibt es nur einen dünnen Pfad, der sich durch den Graben hindurch schlängelt. Der Eiswindpass ist die Pforte zu der zeitlosen Einöde der Wüste.

„Man berichtet sich nicht viel Gutes über diese Schlucht.“, sagte Jack mit nachdenklichem Blick bergab, nachdem Gortak unweit einer Ansammlung von dicht aneinander gedrängten, niedrig wachsenden Bäumen gelandet war. Der Greif putzte sich unbeteiligt das Gefieder seiner Schwingen, während sein Reiter weiter sprach. „Hayden hat mir oft Geschichten über den Eiswindpass am abendlichen Feuer erzählt. Dass dort seltsame Riesen hausen, welche das Land noch vor dem ersten Greif bewohnt haben sollen und nun vom Halurad verdrängt hier in den Wirren dieser Schlucht leben.“ Gortak schaute auf und blickte Jack aus seinen unergründlichen Adleraugen heraus an. Doch dieser schüttelte energisch den Kopf. „Nein, wir werden nicht drüber fliegen, sondern den Pass zu Fuß nehmen. Wenn es dort wirklich Riesen gibt, dann denke ich kaum, dass sie uns zwei überhaupt eines Blickes würdigen.“, erklärte Jack. „Dennoch, lass uns keine Zeit verlieren. Zwar mögen Riesen nur eine Legende sein. Andere Kreaturen allerdings nicht und deshalb will ich dieses Gebiet so schnell wie möglich hinter uns lassen. Das heißt, wir werden die Nacht hindurch marschieren. So lange die Abendsonne noch scheint, sollten wir bereits weit genug vom Rand des Grabens fort sein, denn hier draußen sind wir Riesenwölfen bei Nacht noch eher ausgeliefert, als in dem Labyrinth aus Pfaden dort unten.“ Gortak brummte kurz zustimmend, was Jack leise Auflachen ließ. „Ich dachte mir, dass du genauso wenig von den Bestien überrascht werden willst, während wir schlafen.“, meinte er noch, ehe sie unversehens den Abstieg in die Schatten der Schlucht begannen.

Der Eiswindpass ist kein vielbegangener Weg, doch sie kamen gut voran. Der Schnee lag hier bei weitem nicht so hoch wie im Gebirge und war größtenteils von den kalten, stets heulenden Winden über ihren Köpfen gefroren und dementsprechend fest. Doch nicht nur die natürlichen Umstände ließen Gortak und Jack schnell gehen und nur so selten wie möglich eine kurze Rast einlegen. Es war ein nicht fassbares Dunkel, welches in jedem steinernen Winkel zu sitzen schien und das Fehlen jeglichen Lebens. Je weiter sie den Pass gingen und je tiefer sie in den Graben vordrangen, desto höher wurden die grauen und schwarzen, steilen Felswände zu ihren Seiten. Es dauerte nur wenige Stunden, bis sie die weißen Gipfel der Berge hinter sich nicht mehr sehen konnten und alles, was ihren Blick auf sich zog, war stummes, finsteres Gestein an welches sich ab und an hilflos ein Brocken Schnee klammerte. Und beständig heulten und pfiffen über ihren Köpfen die Eiswinde. Der Sternenhimmel war nur zu erahnen, denn über ihren Köpfen ragten Zacken um Zacken die grotesken Formen der Steine. Schluchten tauschten sich mit Wänden aus, ein stetiges Wispern unter und ein dumpfes Klagen über ihnen machten Jack deutlich, woher all die Legenden über den Pass stammten.
Er schätzte, dass es Mitternacht war und sie die Hälfte der Schlucht durchquert hatten, als sie eine Rast einlegten. Doch wollten getrocknetes Wolfsfleisch und kalter Wurzeltee nicht schmecken, denn das Gefühl im Nacken, belauert zu werden, vertrieb ihnen Hunger und Appetit. So saßen Greif und Reiter einige Zeit stillschweigend und müde nebeneinander in einer kleinen Nische, doch die Präsenz des Unbekannten, was in jedem Fels hockte, ließ nicht einmal ein kurzes Dösen zu. Was Jack auch gar nicht wollte. Er fuhr mit der Hand über das schwarze, glatte Gestein zu seinen Füßen und folgte mit dem Blick dünnen, feinen Rissen, in denen sich etwas Schnee verzweifelt eingenistet hatte.
„Etwas Gewaltiges schläft hier.“, sagte er nach einigen Augenblicken leise und ehrfürchtig. „Und solange es schläft, ist man hier selbst bei Nacht in trügerischer Sicherheit.“ Jack drehte den Kopf zu Gortak, welcher ihn abwartend und mit der Seelenruhe im Blick anschaute. „Denn du musst wissen, die Sonne ist nicht da, um uns Wärme zu spenden. Ohne sie gäbe es nur die Nacht und die dunkle Seite des Halurad und Wesen wie der Glaark oder die Mondschuppenheuler würden Stunde für Stunde ihr grausames Wesen treiben. Aber hier wagen sie sich nicht hin.“ Jack schaute sich langsam um, fast als fürchte er, einer der genannten Schrecken hänge nun geifernd in einer Ritze im Fels. „Vielleicht stimmt die Legende über die Riesen, Gortak.“, sann Jack und fügte nach einer kurzen Pause an: „Die müssen ja unglaublich alt sein.“ Er schüttelte den Kopf und belächelte sich selbst. „Komm. Wir müssen weiter. Wenn wir mit der Morgensonne die Schlucht verlassen, können wir uns am Rand der Eiswüste Schlaf gönnen.“
Die zweite Hälfte des Marsches dauerte, wie Jack vermutet hatte, die restliche Nacht. Den kränklichen, graublauen Schleier des neuen Morgens sahen sie schließlich aus der Ferne an einer weiten Horizontlinie, welche sich ins Nichts verlief. Keine schwarzen Felsnadeln mehr, keine wirren, ziellosen Brücken aus Gestein und Geröll, kein Labyrinth aus zeitlosem Gebirge, sondern die andere Pforte des Eiswindpasses; das Tor in die weiße Wüste.

Das Hintersichlassen der Schlucht und ihrer Schatten und das immer leiser werdende Jaulen der Eiswinde waren begleitet von einem erleichterten Aufatmen, als der Schnee zu ihren Füßen wieder pulverig und tief wurde. Doch erst, als der Pass und das riesige Gebirge hinter ihnen nur noch eine harmlos wirkende, dunkle Grenze waren, ließen Jack und Gortak es zu, zu verschnaufen. Sie waren zu müde und entkräftet, zu hungrig und durstig, um der Eiswüste ein bisschen Atemlosigkeit Dank ihrer Faszination zu gönnen und nachdem sie sporadisch ein Lager zwischen einigen Schneewehen errichtet und den ärgsten Hunger gestillt hatten, gaben sie sich bis zur Mittagsstunde dem erholsamen Schlaf hin. Gortak, von Natur aus ausgezeichnet gegen jegliche Witterungen gerüstet, diente seinem Herrchen als ideale Schlafmatte, und ein ausgebreiteter Flügel ersparte auch jedes Zelt. Den Greifen störten die gelegentlichen Schneestürme nicht im Geringsten und Jack war warm unter der Schwinge vor jenen geschützt.
Als die Sonne hoch am Zenit stand, herrschte gerade friedfertige Ruhe, doch als Jack müde blinzelnd aufwachte, merkte er, dass die Schneewehen gewandert waren und eine von ihnen aus einer Laune heraus ihn, Gortak und das halbe Lager teilweise mit Schnee bedeckt hatte. Nicht, dass Jack sich daran störte. So hatte es noch einen Windschutz gegeben und dementsprechend hatte er ruhig geschlafen und streckte erholt die Arme aus. Er ließ es aus, Gortak zu wecken und schaufelte erst einmal den gröbsten Schnee von dem Flügel, der als Decke gedient hatte, und sich selbst runter, ehe er sich erhob und ein paar Meter durch die Wanderwehe stapfte. Er schirmte mit der Hand die Augen ab und blickte über das, was vor ihnen lag.

[...]